Windmühlen bauen, wenn der Wind der Wandlung weht

Windmühlen bauen, wenn der Wind der Wandlung weht

Covid-19 hat der Menschheit Grenzen aufgezeigt, der Welt neue Dynamiken verliehen und der Gesellschaft Impulse für Neuorientierung gegeben. Nun werden „die Wirtschaft“ und das gesellschaftliche Leben gerade wieder hochgefahren.  Dies muss zukunftsfähig und enkeltauglich geschehen. Grüner Deal und die Strategie „Vom Hof auf den Tisch“ sind sehr positive Signale in Richtung Nachhaltigkeit – vorgelegt durch die EU-Kommission, auch als Wegweiser aus der Krise heraus. In beiden Papieren fordert Brüssel ambitioniert eine Neuausrichtung der europäischen Wirtschaft ein. In einem Satz ist das Konzept glasklar formuliert: „(…) das Wirtschaftswachstum (muss) von der Ressourcennutzung abgekoppelt (werden)“. Die Veröffentlichung solcher Konzepte und Strategien ist jedoch nicht das Ende eines politischen Prozesses, sondern eher der Anfang. Die politischen Anstrengungen und die Wiederaufbauhilfen müssen dem Konzept des Grünen Deals folgen – dann entsteht aus der Krise die Chance für eine Erneuerung der Wirtschaft und Gesellschaft in Deutschland.

Nachhaltige Wirtschaft: Kreislaufgedanke & Verantwortung

Für die Ernährungswirtschaft stellen sich Aufgaben aus der Strategie „Vom Hof auf den Tisch“, da dort schon Richtungsweisendes vorgeschlagen wurde. Denn (nur) nachhaltiges Wirtschaften und der Aufbau einer echten Kreislaufwirtschaft können Ökonomie und Ökologie zusammenbringen. Insbesondere die Öko-Akteure zeigen zwar bereits, wie kreislauforientierte Produktion gelingen kann, dennoch stehen allen Beteiligten der Ernährungswirtschaft große Herausforderungen ins Haus.

Die größte Herausforderung der Kreislaufwirtschaft ist sicher das Verfügbarmachen der Siedlungsabfälle für die natürlichen agrarischen Produktionssysteme. Durch die massive Verschmutzung der Abwässer und anderer Siedlungsabfälle wird das Schließen der Nährstoffkreisläufe unmöglich. Zurecht schlägt der Grüne Deal deshalb ein „Null-Schadstoff-Ziel für eine schadstofffreie Umwelt“ vor, was im Kern der einzige vernünftige Weg ist, um natürliche Nährstoffkreisläufe erfolgreich und sicher zu schließen. Es braucht eine radikale Entgiftung. Ein „Detox“ aller Produktions- und Konsumbereiche ist geboten. Das muss konsequent verfolgt werden – einschließlich der beherzten Minimierung toxischer Substanzen in der gesamten Lebensmittelproduktion.

Eine weitere große Herausforderung ist es, ein Kreislaufsystem bei der Verpackung zu etablieren. Verpackungssysteme müssen materialsparend aufgebaut werden, Lebensmittelverpackungen müssen zum einen einfacher zu recyceln sein und zum anderen aus Werkstoffen bestehen, die recycelbar sind und möglichst aus nachwachsenden Rohstoffen hergestellt sind. Diese sollten im besten Falle einer Kompostierung zugänglich sein. Hierzu sind klare rechtliche Vorgaben notwendig, um die Recyclingfähigkeit von Packstoffen zu erhöhen, um Anreize für den Einsatz von Recyclingmaterial bzw. von Mehrwegverpackungen zu schaffen und um kompostierbare Materialien konsequent auf den Weg zu bringen.

Daneben brauchen wir eine Effizienzsteigerung in der Lebensmittelnutzung. Alle Marktakteure sind dabei gefordert, Verantwortung zu übernehmen. Die Industrie hat die Aufgabe, in Design von und Kommunikation über Lebensmittel präventiv gegen Verschwendung zu arbeiten. Sie muss die Konsumenten dabei unterstützen, Verschwendung zu vermeiden. In diesen Kontext gehört auch die lobenswerte Zielsetzung in der Strategie „Vom Hof auf den Tisch“, das Ernährungssystem durch eine Halbierung der Lebensmittelverschwendung bis 2030 zu entlasten.

Die Strategie geht insgesamt zielstrebig voran, z.B. mit neuen Zielen für mehr Ökolandbau und weniger Pestiziden und Antibiotika. Und zurecht wird angesprochen, dass die nachhaltigsten Lebensmittel die Erschwinglichsten sein sollten. Doch wie das umgesetzt werden soll, bleibt offen. Es wird sich um die Umweltbilanzierung in der Verarbeitung und im Handel gedrückt und nur nebulös von einem „Verhaltenscodex für verantwortliche Unternehmens- und Marketingpraktiken“ gesprochen. Ein Punkt zur Nachbesserung wäre es, ein Umweltbilanzierungssystem für die Ernährungswirtschaft vorzuschreiben und steuerlich wirksam zu machen. Rechtlich gesicherte Bilanzierungssysteme sind vorhanden. Und natürlich wäre es sinnvoll, die Mehrwertsteuer für alle Öko- oder nachweislich nachhaltige Produzenten um die geleisteten Umweltbeiträge zu senken und die Produkte damit für die Kunden attraktiver zu machen.

Nachhaltige Gesellschaft: Wertschätzung & Ernährungsbildung

Eine weitere Bedingung für das Gelingen der EU-Strategien und eines nachhaltigen Wandels ist die Wertschätzung, die wir der Landwirtschaft und der Lebensmittelherstellung sowie den Lebensmitteln entgegenbringen – als Akteure der Wirtschaft und der Gesellschaft. Die Anerkennung für all das muss über Bewusstseinsbildung und Erfahrungen systematisch gefördert werden. Denn erst auf Basis eines Bewusstseins für den Wert von Lebensmitteln und ihrer Herstellung kann jeder – als Produzent und Konsument – Verantwortung übernehmen. Verantwortung für einen zentralen Lebensprozess und für die stofflich intensivste Interaktion mit unserer Umwelt – dem Essen.

Ein Ausdruck dieser Wertschätzung sind die Preise. Der Anteil der Haushaltsausgaben für Lebensmittel ist in den letzten Jahrzehnten ständig gesunken. Zusätzlich sprechen die Preise für Lebensmittel nicht die Wahrheit. Einerseits sind sie verzerrt durch eine verfehlte Subventionspolitik für die Landwirtschaft, andererseits werden gerade in der Lebensmittelproduktion sehr viele Umweltkosten sozialisiert, d.h. auf die Allgemeinheit abgewälzt. Wahre Preise für Lebensmittel aber könnten den Verbraucher in Richtung nachhaltigen Konsums steuern und die Wertschätzung für Lebensmittel erhöhen.

In diesen Kontext der Wertigkeit von Lebensmitteln gehört auch eine Überprüfung des umfangreichen Kataloges an Zusatzstoffen (und ihnen gleichgestellter Stoffe), die für die Lebensmittelherstellung erlaubt sind. Viele dieser Substanzen sind schlicht nicht „notwendig“, um ein sicheres/qualitativ hochwertiges Lebensmittel herzustellen. Darüber hinaus sind einige dieser Stoffe verantwortlich für falsche Konsumimpulse, die ernährungsbedingte Krankheiten fördern. Viele Hersteller von Öko-Lebensmitteln, aber auch viele konventionelle Unternehmen, die die „Clean Label“-Politik verfolgen, haben gezeigt, dass man die ganze Bandbreite an Lebensmitteln auch ohne all diese Stoffe herstellen kann. Es ist Zeit, dass der Gesetzgeber handelt.

Doch Wertschätzung alleine reicht nicht aus, wir müssen auch das Verhalten ändern: „Es liegt auf der Hand, dass der Übergang nicht ohne eine Änderung des Ernährungsverhaltens der Menschen vollzogen werden kann“ so die „Vom Hof auf den Tisch“-Strategie. Eine sehr korrekte Feststellung. Dringend notwendig ist es, in praktische Ernährungsbildung und -kompetenz zu investieren. Denn es geht um primäre und essentielle Lebens- und Gesundheitsthemen. Lebensmittelanbau, Herstellung und Zubereitung zu erfahren und zu erleben, aber auch das genussvolle Essen kennenzulernen – das bildet Bewusstsein und Wertschätzung aus. So bekommen die Bürger die Möglichkeit und Fähigkeit, Verantwortung für den eigenen Konsum zu übernehmen. Zudem ist es dringend geboten, über Kommunikation und Werbung für Lebensmittel nachzudenken. Noch werden zu viele „falsche“ Konsumanreize, d.h. Anreize für ungesunde, nicht nachhaltige Ernährungsstile propagiert. Hier kann und sollte die Ernährungswirtschaft selbst mehr Verantwortung übernehmen.

Nachhaltige Globalisierung: Arbeitssituation & regionale Strukturen

In der Krise ist auch „die Krise“ der Land- und Ernährungswirtschaft in Bezug auf die gesellschaftliche Achtung und auf Wertschätzung der Arbeitsplätze deutlich zutage getreten. Covid-19 hat gezeigt, wie abhängig die Ernährungswirtschaft in vielen europäischen Ländern von Wanderarbeitern ist, die ihre Arbeit zu Bedingungen erledigen, bei denen Menschen in den jeweiligen Ländern nicht bereit wären, einen Finger zu krümmen. Auch das hat viel mit Wertschätzung gegenüber den Aufgaben und den Produkten zu tun – und damit mit der Preisfrage. Der Imagewandel der Branche sollte Priorität haben, allem voran die Stärkung sozialer Rechte und der ArbeiterInnen-Rechte.

Die Covid-19-Krise lehrt uns darüber hinaus noch etwas. Sie fordert ein Überdenken der bisherigen weltweiten Arbeitsteilung, auch in der Ernährungswirtschaft. Beispielsweise müssen wir die Globalisierung bewusster angehen und den Status quo der Globalisierung kritisch hinterfragen: wo brauchen wir globalisierte Strukturen, wo sind sie berechtigt? Wie können wir soziale und ökologische Werte nachhaltig globalisieren und exportieren? Aber auch: Wo braucht es robuste, regionale Strukturen? In der Ernährung und in anderen systemrelevanten Sektoren, wie der Medizin, sind resiliente und regionale Strukturen zwingend nötig. In diesen Bereichen müssen regionale Strukturen gefördert, und wo möglich die Globalisierung eingeschränkt werden.

Das massive „Sterben“ von kleinen und mittelständischen Betrieben (KMU) im Lebensmittelsektor muss unbedingt aufgehalten werden. Wir müssen konsequent Bürokratie abbauen und gesetzliche Vorgaben dahingehend überprüfen, dass diese KMU nicht unsachgemäß benachteiligen. Was heute leider zu oft der Fall ist. Beispielsweise wäre eine sachgerechte Einschätzung von hygienischen Risiken im Spannungsfeld von Groß- und Kleinbetrieben hier schon ein erheblicher Fortschritt. Weiter müssten Förderprogramme z.B. aus der zweiten Säule der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP), sehr viel stärker für nachhaltige Regionalentwicklungskonzepte in der Lebensmittelwirtschaft eingesetzt werden. Nicht zuletzt, um die Ernährungskultur zu erhalten, die Europa in all ihrer wunderbaren kulinarischen Vielfalt auszeichnet.

Doch wir brauchen beides – Regionalität und Globalisierung. Denn auf der anderen Seite müssen wir auch lernen, dass wir eine Weltgemeinschaft sind und lokale, regionale Strukturen kein Allheilmittel darstellen. Bewusstes, globales Denken und Handeln – wo möglich und sinnvoll – das sollte die Devise sein. Helfen kann hier ein Umbau der globalen Handelsbedingungen, sodass ökologische und soziale Standards durch Globalisierung nicht mehr unterlaufen werden können – sondern globalisiert werden.

Denn gerade im Bereich der Lebensmittel hängt die Versorgungssicherheit von bewusster Globalisierung ab: die Strategie „Immer größer, immer zentraler“ führt in eine Sackgasse. Agrarpolitik muss abrücken von ständigem Wachstum und ungehemmter Globalisierung und vielmehr Kleinstrukturen in der primären Lebensmittelherstellung fördern und stärken. Diese sind die krisensicheren Strukturen. Als wirksamster Hebel greift hier die Internalisierung von Kosten, wie auch im Green Deal gefordert. Gerade kleine Höfe und regionale Versorgungsstrukturen müssen als Gegengewicht zur fortschreitenden Globalisierung systematisch gestützt und gefördert werden. Wie oben angesprochen, würde es sich anbieten, z.B. die zweite Säule der GAP oder das Leader Programm für dieses Ziel weiter zu entwickeln und zu nutzen.

Ihr Dr. Alexander Beck

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